|
Aus »Der Mauerfall. Einakter«. Vers 65742 bis 65845 VIERTE SZENE Heiner, Tina, Silke, der Dichter. Kalle tritt auf. KALLE: Hallo, kommt mit, denn heut ist nicht zu schlafen, Längst aus dem Haus sind auch die Stasi-Jäger, Die meisten Kneipen nach der S-Bahn-Brücke Verschenken Freibier, weil Berlin heut feiert, Berlin, das ganze, es gibt null Kontrolle, Ihr braucht nicht mal den Perso einzustecken. HEINER: Ob der Schabowski weiß, was ihm gelungen, Ich denk, der findet mühlos ’nen Verleger, So, Tina, trinkst dus aus, sonst reich hier rüber. SILKE: Ich muß nach Hause, meine Tochter holen, Allein geh ich nicht durch die Sperranlagen, Nicht, daß schon morgen wird das Loch gestopfet, Und ich bin drüben und mein Kind verlassen. DICHTER (zündet sich eine Zigarette an): So ging sie hin nach viermal sieben Jahren… TINA: Du machst es dir bequem, du willst wohl bleiben? DICHTER: Ich hab nicht Lust, mit Leuten Bier zu trinken, Die uns schon bald als Fluch und Ungeziefer Beschimpfen werden, weil sie plötzlich merken, Daß nach dem Land der Wohlstand nun geteilt wird. Ich hab nicht Lust auf Küsse und Champagner, Auf Freudentränen, auf den Rausch der Sause, Ich halte lieber Zwiesprach mit den Mauern, Denn auch dies Haus wird nun bald abgerissen. TINA: Wie kommst du auf den Stuß mit diesem Hause? DICHTER: Es steht recht nah am Bahnhof, und die Miete Die dieser Zustand bringt, wird bald nicht reichen, Die Steuer für das Grundstück aufzubringen. Und ist Berlin nicht länger Front und Abseits, Wird manchem gut Betuchten es gefallen, Und unsereiner hat da schlechte Karten. KALLE: Mensch, Deutschland feiert, und die Welt ist sprachlos, Nur fünf Minuten Fußweg, fast geschoben, Und du ersteigst den Brennpunkt der Geschichte, Statt dessen jammerst du um ein Gemäuer, Das immer nur ein Heim für Deklassierte. Meinst du, ich will hier den Mercedes parken, Bei Kindsgeschrei mit Ata Pfannen schrubben, Es war hier nett, doch jeder wird erwachsen, Und dieses Loch ist nur ein Lebensabschnitt. HEINER: Man sieht, der Westen wirft schon seine Schatten… TINA: Ja, Kalle, ich bin platt, du nennst die Runde Den Abschnitt, den man wegwirft wie die Büchse, Nachdem das Bier die Kehle angefeuchtet? KALLE: Nein, Tina, gut wars hier mit euch zu hoffen, Daß dieser Alptraum aus Beton und Waffen Zusammenbrech. Doch glaub, du wirst es sehen, Es gibt ein andres Leben als den Mangel, Den Notbehelf, den gutgemeinten Krempel, Sie haben uns ums Lebensglück betrogen, Wir werden London sehn, Paris, die Malediven, Wir fahren an das Rote Meer zum Tauchen, Wir brauchen nicht mehr Märchen und Gedichte, Um aus der schnöden Wirklichkeit zu fliehen. DICHTER (lacht): Ich brauche nicht nach West-Berlin zu pilgern, Die Propaganda strömt mir schon entgegen. TINA: Na Kalle, die Begeisterung in Ehren, Doch glaub ich, übertreibst du ziemlich haltlos, Wie willst du den Mercedes finanzieren? KALLE: Du weißt, ich konnt schon immer gut verkaufen, Zwar warns vom Magazin nur alte Hefte Und Teile, um das Fahrrad dir zu richten, Und Fliesen oder mal ein Hermann Hesse. Doch das Prinzip ist jedes Mal das gleiche, Ob Einschlafhilfen oder Morgenwecker, Ich glaub, ich werd es da zu etwas bringen Und jeder, der nicht hängt am alten Zopfe. HEINER: Nun streitet nicht um ungelegte Eier, Heut gibt es Freibier und das war noch immer Der beste Grund, den Hintern zu erheben. DICHTER (zu Silke): Schreib das Rezept am besten dir noch heute Ins Buch, wer weiß, ob wir uns nochmals treffen… TINA (empört): Nun machs mal halblang, bin ich etwa Kalle, Der morgen im Mercedes mit zweihundert Davondüst, wenn ich mal zu meinen Kumpels Nach Kreuzberg schau, werd ich kein andres Mädchen. DICHTER: Ist ja schon gut, ich will euch nichts vermiesen, Schaut an, was hier schon bald die Regeln aufstellt. Ich hab gelacht bei Kalles Stasi-Fahndung, Und lache auch bei künftigen Akquisen. Denn all die Trips in neonhellen Moden Die langweiln Aladin, der seine Lampe Am Zauberdocht des reinen Herzens zündet. Ich bin verhalten, weil ich die Gefahren Erahn, die sich verstecken in der Freiheit. Wir lebten hier in einer Stümper-Wirtschaft, Da war es leicht, das Echte zu erkennen, Doch in dem Spiegelsaal der Surrogate Stürzt sich so manche Motte ins Verderben. CHORUS: Von Kap Arkona bis zum Tiniussteine Sucht sich ein Halbvolk die verlornen Schwestern, Sie haben Nickelgeld und schönre Scheine, Was gestern war, das scheint nun ganz von gestern. Dies ist kein Spiel, es ist ein reifres Ringen Als um den Plan, geschützt im Mauerschatten, Es wird Versuchung und Verzweiflung bringen, Heuschreckenplagen und die Gier der Ratten, Doch wer sich dem Erlöser anbefohlen, Den schreckt nicht Teufels Zahl noch Winkelzüge, Der wird Kastanien aus dem Feuer holen Und immer wissen, was ist Schein und Lüge, Der weiß, die Zeit hat ihre Advokaten, Die meinen, ihr Geblök bedeute Dauer, Doch taubenfüßig kommen große Taten Gebremst von keiner noch so festen Mauer. |