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Feuer

"Das eine Stadt so verlassen sein kann!" Sie schimpfte, wütend auf sich und auf alles. Zunächst einmal auf die vielen Fahrzeuge mit ihren hellen Scheinwerfern. Sie blendeten. Sie bog in die Marktstraße, die für Autos gesperrt ist. Nirgendwo war ein Mensch auf der Strauße. "Die sitzen alle im Auto oder vor der Glotze", sagte sie im lautstarken Selbstgespräch. Das war ihr nicht peinlich. Was machte es auch? Es würde sie sowieso keiner hören.
Sie malte sich aus, wie sie von ihrem Ausflug zurückgekehren würde. Harald würde verständnisvoll nicken. Er würde ihr einen Kaffee machen und vielleicht gleich die Sachen waschen, die Sie bei ihrer sinnlosen Nachtwanderung beschmutzt hatte. Er würde ihr klarmachen, daß es sich nicht lohne, über Vergangenes zu diskutieren, man solle die Zeit lieber wettmachen durch entschiedeneres Anpacken aller der Dinge, die nun zu tun sein. Sie würde sich wieder fügen, denn er war ja im Recht, und sie selbst verhielt sich wie ein ungezognes Kind. Das Wegrennen war einfach blöde.
Aber sie kehrte nicht um. Als habe sie ein Spiel eröffnet, das man nun nicht einfach abbrechen könne, schritt sie weiter durch die dunkle Stadt, zur Kirche, zum Stadtmuseum, durch die Gasse, von der die Sage ging, es sei einst eine Jungfrau eingemauert worden. "Alles Verleumdung!", murmelte sie, "da wollte sich jemand auf Kosten der Vergangenheit in ein freundliches Licht setzen." Es war geradezu verhext. Noch niemals war ihr die Stadt so ausgestorben vorgekommen wie an diesem Oktobertag. Und wenn ihr tatsächlich jemand begegnete, müßte es auch noch ein Raucher sein, der Feuer dabeihatte. "Ausgeschlossen", murmelte sie. Aber sie kehrte nicht um und lief den Berg hinauf zu der Bahnlinie.
Natürlich war ihr das Rauchen nicht so wichtig, daß sie deswegen ihre Zukunft hinwerfen würde. Aber die allgemeine Hysterie gegen das Rauchen seit einiger Zeit ging ihr gewaltig auf die Nerven. Harald war natürlich anderer Meinung. Aber der war ja immer im Einklang mit dem, was gerade so angesagt war. Daß er ihr das Rauchen verbieten würde, hatte sie sich freilch nicht vorstellen können. Oder doch? Wie dem auch sei, das Maß war voll. Welches Maß? Ach, was weiß ich. Es war jedenfalls im ganzen Haus kein Feuer zu finden und sie hatte behauptet, Harald habe es versteckt. Hat er auch! Da gibts keinen Zweifel! Naja, und dann hat sie eben gesagt, sie ginge und nähme den ersten besten Kerl, der ihr Feuer geben würde.
Sie ging ziemlich zügig, aber auf diese Weise wurde es wenigstens nicht kalt. Wenn ich doch ein Ziel hätte! Ihr fiel ein, daß sie an der Tankstelle ein Feuerzeug kaufen könnte. Aber dann ging sie ja in eine völlig falsche Richtung. Suchte sie Feuer? Was suchte sie denn überhaupt?
Sie sah einen Igel im Laternenschein. Dem war es gewiß angenehm, daß die Stadt so menschenverlassen war. Ob er sie bemerkt hatte? Sie verhielt sich ruhig und beobachtete ihn eine Weile. Ein Auto fuhr vorbei und mit hoher Geschwindigkeit durch eine Pfütze. Pfatsch! Nun war auch noch der Rock versaut. Harald würde sich den Triumpf nicht anmerken lassen. Oder doch. Sein Schweigen hatte etwas Demütigendes.
Der Igel mußte sie doch bemerkt haben, denn er lief ganz plötzlich in eine Hecke. Als habe er einen Teil von ihr mitgenommen, führte sie eine Last verschwinden. "Ich habe Zeit", stellte sie fest, "vielleicht sollte ich doch zur Tankstelle gehen und mir eine anstecken." Sie spürte eine innere Befriedigung. Vielleicht würde sie bald zurückkehren, aber immerhin, sie war erstmal weg. Harald würde sich beunruhigen. Er beunruhigte sich gern. Überhaupt konnte man ihn sich gar nicht ohne Sorgenfalten vorstellen. Er war eben immer nett und besorgt.
Sie lachte bitter. Natürlich war sie kein Kind mehr, und sie hatte sich vieles abgeschminkt. Die Welt ist keine Romanze! Und erst recht keine Seifenoper!
Als sie sich unwillkürlich etwas gerade raffte, sah sie einen Mann mit Hut an der Bahnschranke stehen. Was machte der da? Die Schranken waren doch offen. Warum ging er nicht dahin oder dorthin? Sie hatte sich keine Vorstellungen gemacht, wem sie denn auf der Straße begegnen könnte. Natürlich könnte sie diesen um Feuer bitten, zumal er sich gerade eine Zigarette ansteckte und genüßlich zog. Aber irgendetwas warnte sie. Der Kerl war ihr gar nicht geheuer.
Sie ging ein paar Schritte in seine Richtung und blieb erneut stehen. Sie könnte jetzt umgekehren und den Weg zur Tankstelle einschlagen. Aber sie spürte deutlich, daß sie damit die Spielregeln verletzte. Was denn für Regeln? Gab es irgendeine Instanz, das über ihr scherzhaftes Versprechen wachte? Niemand, sie selbst nicht oder Harald, hatte das erstgenommen. Und wenn doch, so war Harald nicht da. Was sollte sie hindern, das alberne Spiel abzubrechen?
Sie war nicht neugierig. Der Typ war ihr furchtbar egal. Wenn sie ihn um Feuer bitten würde, dann einzig, um die Sache hinter sich zu bringen. Dann wäre es freilich gut, sich zu beeilen.
Mit einem Ruck trat sie auf den Herrn zu und bat um Feuer. "Gerne -", sagte er gedehnt und gab ihr eine Schachtel Streichhölzer, "Die können Sie behalten. Ich kann ja nicht immer dasein." Schon wieder jemand, der für sie sogte. Die überflüssige Bemerkung versetzte ihr einen Stich. "Danke", erwiderte sie und gab die Schachtel zurück "aber ich rauche sonst gar nicht." - "Schade, wenn Sie nicht rauchen. Als Raucherin paßten Sie viel besser zu mir."
Das war eine ziemlich unverschämte Anmache. In solchen Situationen war sie eigentlich nie verlegen. Aber jetzt fiel ihr keine passende Antwort ein. Etwas kläglich sagte sie, "das mag wohl sein", und rührte sich nicht vom Fleck. Der Mann schien von einer unerschütterlichen Ruhe. "Aber sie können mir beim Tragen helfen", sagte er schließlich. "Beim Tragen? Was denn in aller Welt?", sie war unsicher und völlig durcheinander. Am besten, sie sagte erst einmal gar nichts.
"Hinter dem Bahnhof lagert ein großer Kohlenhaufen", erklärte der Unbekannte, "Ich habe hier drei Eimer. Wenn Sie einen davon nähmen?"
Das war nun wirklich die Höhe. Sie hatte um Feuer gebeten und sollte nun beim Kohlenklau helfen. Was gab diesem unverschämten Kerl diese Sicherheit? Erst jetzt bemerkte sie die drei Eimer neben ihm. Er rauchte weiter unverdrossen und schnippte die Asche stets mit einer etwas übertriebenen Geste weit von sich weg.
"Haben Sie keine zuhause?" fragte sie und kam sich unendlich blöd vor. Natürlich hatte er keine. Das war ein Arbeitsloser, auf Stütze angewiesen, und vielleicht versoff er alles. Alkoholisiert wirkte er freilich nicht. Aber war sie denn zuständig, hier Sozialhilfe zu leisten?
Es kam keine Antwort und sie bemerkte verwundert, daß sie auch keine erwartet hatte. Sie hatten sich in Bewegung gesetzt, in Richtung Bahnhof, wo es ziemlich dunkel war, seit es dort nur noch einen Automaten gab. Wollte er sie in Dunkel locken?
Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht. Das ganze war verworren und absurd. Sie hatte keine Ahnung, welcher Dämon sie ritt, mit dem Vogel mitzuwandern. Er mochte ungefähr in ihrem Alter sein. "Sind Sie von hier?", fragte sie schließlich.
"Von Geburt an. Gab keine, die mich fortgetragen hätte", sagte er und fügte lachend hinzu, "mit dem Besen." Er hielt sie wohl für eine Hexe. Nun ja, das deutete wohl zumindest darauf, daß er ihr nicht im Dunkeln an die Wäsche wollte. Sie malte sich aus, was sie der Polizei wohl sagen würde, wenn das Abenteuer schief ging. Aber die waren ja auch wie alle Welt voller Verständnis, besorgt wie eben Harald. Sie fühlte eine Wut gegen den Freund. Er zwang sie ins Abseits? Wirklich?
Sie waren an den Kohlenhaufen angekommen, und der Unbekannte begann mit geübter Hand die Eimer zu füllen. "Nun nichts wie weg. Tun mir leid, daß ich Sie schleppen lasse, aber es geht zu zweit wirklich viel einfacher." Sie hob den Eimer an, er war leichter als gedacht. Die Situation war unwirklich und sie bemerkte, daß sie langsam richtig neugierig wurde, wo das alles noch hinführen würde. Sie kamen gut voran, und ein weniges später standen sie in seiner Wohnung, und er begann, Feuer zu machen. Gesprochen wurde nicht, wie nach geheimer Abmachung. Sie schaute sich die Wohnung an.
Sie war einfach, aber nicht geschmacklos. Einen Staubsauger gab es nicht, einer der Teppiche hing im Hof auf der Rolle. Ebenso gab es keinen Fernsehen und keine Stereo-Anlage, die elektrische Funzel im Wohnzimmer wirkte fast wie ein Gaslaterne. Es gab viele Bücher, aber sie hatte keine Lust, die Titel zu studieren. Verschiedene Gemälde und Stahlstiche befanden sich an den Wänden, viele davon mit Feuer, etwa brennende Schiffe und Gehöfte. "Sind sie ein Pyromane?", fragte sie, während er noch am Ofen werkelte.
Er verstand sie nicht gleich. Aber als sie die Frage wiederholte, sagte er hereinkommend: "Nicht wirklich. Aber ich habe mal eine Scheune angezündet, die ist total abgebrannt und mein bester Freund gleich mit. War aus Eifersucht."
Sie setzte sich hin. Sie sah es nicht so eng mit den Gesetzen. Dutzende von ihren Bekannten kifften und sie war selbst dem Zeug nicht abgeneigt. Grad eben hatte sie beim Kohlenklau geholfen. Aber daß jemand so wie nebenbei einen Mord gestand, das war nun wirklich zu viel. "Wirklich?", fragte sie kleinlaut.
"Ich weiß es nicht genau, ich war damals auch mächtig im Tee. Aber er war danach verschwunden und es blieb es bis heute."
"Wann war das?", fragte sie. - "Ist dreißig Jahre her. Wahrscheinlich verjährt." - "Ein Mord verjährt nicht." - "Na, ein Mord wars nun auch nicht." - "Wie hieß denn der Freund?" - "Harald."
Natürlich konnte ihr Harald nicht verbrannt sein. Schon gar nicht vor 30 Jahren. Er lebte ja. Warum hatte sie eigentlich überhaupt nach dem Namen gefragt? Spielte doch keine Rolle, wie der Ermordete hieß. Ihr Harald hatte jedenfalls ganz recht. Sie war überspannt und suchte verrückte Abenteuer. Heute jedenfalls hatte sie es zu weit getrieben. Sie wandt sich zum Gehen.
"Das können sie mir doch nicht antun. Sie wollen doch meine Geschichte hören? Oder sind Sie durch die Nacht gerannt, um sich mit ein paar Andeutungen zufrieden zu geben?"
Das stimmte. Sie hätte die Geschichte mit der Scheune ganz gerne gehört. Es wurde auch langsam wärmer in der Wohnung. Wer konnte wissen, wozu das alles gut war. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn sorgfältig über den Stuhl.
"Ich habe auch Kleiderbügel", rief er fröhlich. Sie lachte. Wenn schon denn schon. Also hören wir uns die Gruselgeschichte an. Ihr Blick fiel auf eine Gitarre. "Spielen Sie Gitarre?" fragte sie.
"Für den Hausgebrauch", sagte er und brachte zwei Näpfe mit einem Nudelauflauf herein, "Sie haben doch gewiß Hunger."
Sie ließ sich bedienen und sie aßen schweigend. Dann erzählte er:
"Es war in siebzigern, in dem Jahr nach dem Biermann-Konzert in Köln. Harald und ich, wir waren damals unzertrennlich, im Wald und überall. Wenn Harald halt konnte. Er mußte ziemlich viel auf dem Hof machen. Die Eltern waren schon sehr alt. Die sind auch bald gestorben, als Harald weg war. Das wunde dann alles LPG. Inzwischen gibts die nicht mehr und auch das Haus steht nicht mehr. Alles ausgelöscht. Wie ein Traum.
Ich hatte damals ein Auge auf ein Mädel geworfen. Das war natürlich kein Thema zwischen uns, aber Harald wird es doch bemerkt haben. Zur Kirmis hat Harald mit ihr getanzt. Er hat dann später behauptet, es wäre Damenwahl gewesen und überhaupt ganz harmlos. Die Umstehenden hatten aber einen ganz anderen Eindruck. Da war dann gleich die Rede vom Kinderwagen. Ist natürlich Flachserei, aber daß er sie angebaggert hat, habe ich mir nicht eingebildet. Jedenfalls sind wir ein paar Tage später deswegen in Streit geraten, als wir in der Feldscheune Rotwein tranken. Wir haben immer gern dort geschlafen, einfach, weils außer Haus war. Ohne Eltern, das ist einfach das schönste in dem Alter. Wir haben uns ziemlich böse gestritten und Harald hat sich dann verkrochen. Ich hab allein weitergesoffen und war irgendwie unachtsam mit dem Feuer. Plötzlich war alles ringsum im Flammen. Ich hab mich dann gleich dünne gemacht und mir fiel erst eine Weile später ein, daß Harald wohl noch in der Scheune liegen könnte. Aber dann dachte ich, wenn ich umgekehrte, werde ich gewiß erwischt und kann wahrscheinlich ohnehin nicht helfen und außerdem war ich auch immer noch wütend auf ihn. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß Harald mit so einer Situation nicht klarkommen könnte. Erst als er in der Schule nicht mehr auftauchte, wurde mir mulmig. Ich habe niemals über die Sache gesprochen und wurde auch nie danach gefragt. Von den Lehrern wurde nicht mehr über Harald gesprochen und auch nicht von den Mitschülern. Er war einfach weg und basta.
Das Mädel ist auch wenig später verschwunden. Ausreiseantrag. Damals gab das noch ein ziemliches Aufsehen und es hätte keiner gedacht, daß ein paar Jahre später die Leute scharenweis nach Westen verschwinden. Inzwischen sind ja viele zurückgekommen. Aber von ihr habe ich nie wieder was gehört.
Ich hab dann natürlich was anderes gesucht, aber nicht gefunden. Die hiesigen Mädels haben sich alle recht früh gebunden zu meiner Zeit. Da kam ich immer zu spät. Und mit den Wessis kann ich sowieso nichts anfangen. Inzwischen bin ich eine verkrachtete Existenz. Ich glaube, man wird mit fortschreitendem Alter immer kompromißloser und es fällt einem immer schwerer sich einzureden, daß etwas nun das Wahre sei.
Wie schon gesagt, habe ich niemals über diese Geschichte gesprochen, die ja vielleicht auch etwas langweilig ist, weil die Pointe fehlt. Aber als ich Sie vorhin am Bahnübergang sah, verspürte ich zum ersten Mal den Wunsch, die alte Sache aufzuwärmen. Ist komisch, ich weiß. Aber das ist wirklich die ganze Geschichte, mehr weiß ich nicht zu sagen. Tut mir leid, wenn ich zu viel versprochen habe." Er verstummte jäh.
Sie brannte sich eine neue Zigarette an und sagte dann: "Nun, das ist wirklich etwas komisch, wo Sie ja gar nicht wissen, ob Ihrem Freund etwas passiert ist oder er auf eine ganz andere Weise verschwunden ist. Wenn die Polizei keine Fragen gestellt hat und die Lehrer den fehlenden Schüler einfach übergingen, klingt das so, als sei etwas Politisches im Spiel gewesen, und vielleicht kannten Sie Ihren Freund ja doch nicht so gut wie Sie meinten. Ich bin auch sehr früh ausreist, deshalb rührt mich die Geschichte mit dem ausgereisten Mädel an. Es war alles in allem eine Dummheit. Ich habe auf Großartiges spekuliert und doch überall nur Durchschnittliches gefunden. Meinen jetzigen Freund habe ich in München kennengelernt und vielleicht sind wir nur zusammengeblieben, weil wir beide in die gleiche thüringische Kleinstadt zurückwollten. Da sind wir nun und merken, daß dies wohl nicht reicht für den Bund fürs Leben."
"Ist Ihr Freund etwa auch ausgereist?", fragte der Gastgeber lebhaft.
"Nein", sagte sie betont langsam, "der ist geflüchtet im Kofferraum eines Transitreisenden. Ich glaube, der wußte gar nichts von seiner lebenden Fracht. Hätte sich ja sonst wohl auch eingeschissen an der Grenze. Wie die Wessis so sind... Ich hab ihn ja erst viel später kennengelernt und ich mich gewundert, daß ich ihn nicht kannte, obwohl aus dem gleichen Ort stammte. Aber ich hab natürlich lange Zeit alles, was mit hier zusammenhing, völlig verdängt, es war mir absolut unmöglich, die Idee zuzulassen, die Ausreise könne nicht das einzig Richtige gewesen sein. Übrigens, sagen Sie, wie hieß denn das Mädchen, an das Sie so verliebt waren?"
Während des Gesprächs wurde der Aschenbecher voller und voller. Zu allem Überfluß ist er dann im Laufe des Abends auch noch umgekippt.